Berlin 2022
Mitte September besuche ich den Hauptstadtkongress meines Fachgebiets in Berlin. Er findet diesmal definitiv wieder als Präsenzveranstaltung in einem großen Tagungshotel in Berlin-Neukölln statt. Ich fahre bereits am Mittwochnachmittag bequem von Wuppertal in 4 Stunden direkt nach Berlin. Dorothee wird am Freitagabend nachkommen, für ein gemeinsames Wochenende mit neuen Erkundungen in unserer Regierungs-Metropole.
Wir haben uns diesmal ein besonderes Hotel am Alexanderplatz ausgesucht, mit einem Zimmer in der 34. Etage, das uns einen sensationellen Blick auf den Fernsehturm nach Westen über Berlin bietet. Das Hotel wurde als Interhotel 1970 zum 21. Jahrestag der Gründung der DDR erbaut und bot als Viersterne-Hotel bevorzugt Delegationen der Staaten des Warschauer Paktes Unterkunft. Mit einer Dachhöhe von 125 Metern und 41 Etagen war das Hotel mit Stand 2019 das dritthöchste Hotel Deutschlands. Schon zur Zeit der Eröffnung war die Geschwindigkeit der Aufzüge bemerkenswert.
Nach der Wiedervereinigung folgten Sanierungsmaßnahmen und ab 2001 mit einer Investition von 20 Millionen Euro die Neugestaltung der 1028 Zimmer. Weitere 3 Millionen Euro flossen 2005 in die äußere verspiegelte Glasfassade. Für die 15000 Quadratmeter wurden dafür 6800 Fassadenelemente verbaut. Die Investitionen scheinen aber aufzugehen, mit Stand 2015 gehört das heutige Hotel mit einem Jahresumsatz von 36,1 Millionen Euro zu den umsatzstärksten Hotels in Deutschland (Platz 10) und in Berlin (Platz 5).
Ich beziehe mein Zimmer und bin durchaus beeindruckt von dem besonderen Blick auf Berlin, der sich mir bietet. Am Donnerstag und Freitag fahre ich mit der S-Bahn zum Kongresshotel und nehme ein Frühstück in Form eines Coffee- und Brötchen to go am S-Bahnhof ein. Im Kongresszentrum erlebe erstmals nach mehr als 2 Jahren wieder die Atmosphäre einer Live-Veranstaltung mit einem großen Angebot von Vorträgen, aber auch Seminaren und Workshops. Vor allem aber das Erlernen von Techniken mit der Möglichkeit selbst Hand anzulegen kann keine Online-Veranstaltung leisten.
An beiden Tagen hole ich mir ein umfassendes Update zu den Entwicklungen auf dem Gebiet der Anästhesie, Intensiv- und Notfallmedizin ab. Am Donnerstag schaffe ich es kurz vor Sonnenuntergang noch auf das Dach unseres Hotels, um das Stadtpanorama in vollem Umfang einzufangen. Vom Zimmer aus ist Fotografieren durch die äußere Glasfassade des Hotels eher problematisch. Es ärgert mich da schon, dass für den Besuch der Dachterrasse auch Hotelgäste noch einmal zur Kasse gebeten werden. Die 6 Euro sind aber bestens angelegt für ein paar Bilder aus dieser Perspektive. Ich überblicke die Stadt nach Westen, deren Silhouette für einen kurzen Moment im Schein der der untergehenden Sonne erstrahlt. Danach suche ich in der Nähe des Alexanderplatzes ein Vietnamesisches Restaurant auf und esse hier gut und preiswert.
Dorothee schafft es am Freitag bereits mittags loszukommen und erreicht Berlin-Hauptbahnhof um 18:10h. Ich hole sie dort ab und wir bringen ihr Gepäck zunächst in unser Zimmer im Hotel. An diesem Abend habe ich in einem ganz gut bewerteten türkischen Restaurant einen Tisch reserviert. Es ist ebenfalls gut zu Fuß vom Alexanderplatz zu erreichen und liegt am Anfang der Oranienburgerstraße. Das Essen ist schmackhaft und wir stoßen dabei auf ein weiteres gemeinsames Wochenende in unserer Hauptstadt an.
Wir haben das anstehende Wochenende bereits zu Hause geplant und uns mit Eintrittskarten eingedeckt. Wir frühstücken in einer Frühstücks-Bar am Anfang der Rosa-Luxemburg-Straße. Auf dem Weg dorthin kommen wir an einem Zeltlager unter der S-Bahn-Brücke zum Hackeschen Markt vorbei. Obdachlose junge Leute wohnen im Dreck unter einer dunklen Brücke mitten in unserer Hauptstadt. Es sind die Schattenseiten der Boomtowns dieser Welt, die die Frage nach den Ursachen aufwerfen, aus welchen Gründen sich Menschen in derartigen Lebensbedingungen wiederfinden. Einer der Gründe ist sicherlich der für viele kaum mehr bezahlbare Wohnraum in Berlin. Während die Immobilienbranche sich mit Phantasie- Mietpreisen bereichert, bleibt den Menschen in der eigenen Stadt dann immerhin ein romantischer Platz unter der Brücke- und das for free!
Wir fahren zum Checkpoint Charlie, dem ehemaligen militärischen Grenzübergang zwischen den beiden Stadthälften. Hier standen sich am 27.Oktober 1961 amerikanische und sowjetische Panzer 16 Stunden lang gegenüber, da Angehörige der US-Mission aufgefordert wurden sich nach der gerade erfolgten Teilung der Stadt am Grenzübergang auszuweisen. An dieser Stelle befindet sich seit nunmehr 10 Jahren ein Großpanorama des Künstlers Yadegar Asisi, dessen Installation des Pergamonaltars wir im letzten Jahr in Berlin besucht haben.
Hier nehmen wir nun die Position am Fenster einer Kreuzberger Wohnung ein, von der wir direkt über Mauer und Todesstreifen in den Ostteil der Stadt blicken. Der virtuelle Fensterplatz ist eine 4 Meter hohe Plattform mit einem einsehbaren Panorama vom Grenzübergang an der Heinrich-Heine-Strasse bis zur Straßenecke an der Dresdener/Luckauer-Straße. Im Hintergrund laufen verschiedene Tondokumente zum Bau der Mauer. Noch am 15.Juni 1961 log der damalige Staatsrats-Chef der DDR auf einer Pressekonferenz der Weltgemeinschaft vor:
„Niemand hat die Absicht eine Mauer zu errichten“
Es ist eine unwirtliche, fast postapokalyptische Szenerie aus dem Kreuzberg der 80er Jahre, in dem der Künstler selbst zu Hause war. Verfallene Häuser, Baracken mit alternativer- und Punker-Szene, Mauertouristen und auf der anderen Seite die Grenzsoldaten. Von Gegenüber werden wir mit Kamera und Fernglas von einem Wachturm aus ins Visier genommen. Ein Déjà vu für mich, denn 1982 habe ich mit einem Schulkollegen eine Exkursion durch Kreuzberg gemacht. Es war auch damals für uns als angehende westdeutsche Abiturienten ein sehr befremdliches Szenario. Mit viel Liebe zum Detail gibt Asisi allen, die dies nicht mit eigenen Augen gesehen haben die Möglichkeit in die geteilte Stadt zurückzukehren. Eines der Graffitis auf der Mauer lautet:
„Denkmal der Dummheit und Sturheit“
Wir lassen das Gewusel der Touristen am Checkpoint Charly hinter uns und fahren zur Museumsinsel, auf der wir diesmal das Bode-Museum besuchen wollen. Das Bode-Museum liegt mit seinem Rundbau an der nördlichsten Spitze der Museumsinsel und wurde 1898-1904 im Auftrag Kaiser Wilhelms II. im Stil des Neobarock erbaut. Das gesamte Bauensemble der Museumsinsel gehört heute zum UNESCO-Weltkulturerbe. Der Name des Museums geht auf den Kunsthistoriker Wilhelm von Bode zurück, der aufgrund seiner später umgesetzten Vorschläge geadelt wurde.
5 Jahre lang wurde das Museum mit einer Aufwendung von 152 Millionen Euro saniert. Auf einer Hauptnutzungsfläche von 11000 Quadratmetern befinden sich 66 Ausstellungsräume. Die Geschossflächen belaufen sich auf insgesamt 25000 Quadratmeter. Dem 2. Weltkrieg sind einige der Kunstschätze zum Opfer gefallen, zum einen durch Zerstörung, zum anderen als Beutegut. Was man seit 2005 allein in diesem Museumsteil zu sehen bekommt ist ein Ritt durch die europäische und byzantinische Kunstgeschichte.
Über die große Kuppelhalle betreten wir das Museum und stehen dem Reiterstandbild des großen Kurfürsten gegenüber. Ein anderes Treppenhaus befindet sich in der kleinen Kuppelhalle im Rokokostil, an deren Treppenfuß die beiden Statuen der Venus und des Merkur von Jean-Baptiste Pigalle den Aufgang flankieren. Die beiden Figuren boten ursprünglich den Auftakt der Weinbergtreppe von Schloss Sanssouci in Potsdam. In der oberen Rotunde befinden sich die Marmorstatuen der 6 Generäle Friedrichs des Großen.
Die Exponate führen uns von der frühen Geschichte unserer Christenheit durch das Mittelalter bis in die Neuzeit. Die Museumsräume bieten der Skulpturensammlung ein würdiges zu Hause. Das Füllhorn großartiger Kunst bringt bei aller Faszination unsere Aufnahmekapazität an ihre Grenzen. Am Ende wartet dann noch eine umfangreiche Münzsammlung, die auch Münzen aus der Römerzeit und unserer frühen Kaiser des Heiligen Römischen Reichs beinhaltet.
Eine zeitgenössische Holzskulptur des Künstlers Gerhard Goder von 2014 lässt uns schmunzeln. Der Titel „Conchita Wurst auf der Mondsichel“- ein Scherz? Nein es ist ein Kunstwerk, das dem Betrachter in 1000 oder 2000 Jahren vielleicht etwas über Prozesse der Kultur im 21.Jahrhundert verrät. Die Darstellung von Homo- oder Transsexualtät in einem Museum als Meilenstein für Akzeptanz ist auch derzeit nicht überall auf der Welt denkbar. Kunst ist der Spiegel unserer Menschheitsgeschichte und unserer Werte.
Wir sind wieder einmal erschlagen vom Nachhall der gerade unternommenen Zeitreise und ausreichend hungrig und durstig das Restaurant aufzusuchen, in dem wir uns am Abend einen Tisch reserviert haben. Das Restaurant ist das „Dae Mon“ ganz in der Nähe der Museumsinsel. Das avantgardistische Restaurant mit offener Küche verfolgt die Philosophie der „Open minded Cuisine“.
Küchenchef Raphael Schünemann bekocht uns mit seinem jungen Team an diesem Abend mit einem 6-Gang Menü, zu dem wir uns gerne von Sommelier Niklas die passenden Weine präsentieren lassen. Mutige Kreationen als Fusion aus europäischer und asiatischer Küche lassen die Zunge schnalzen. Das Restaurant hat eine Michelin Empfehlung und Niklas antwortet auf meine Frage nach Sternen-Ambitionen des Restaurants: „Dafür sind wir hier viel zu locker drauf“- das ist richtig, denn bei sehr aufmerksamem Service pflegt man einen völlig unverkrampften Umgang mit den Gästen. Nun ja- die Rechnung hat Sterne-Niveau, aber es war ein toller Abend und wir sind in Berlin.
Wir laufen vorbei am Hackeschen Hof zur Parkanlage am Alexanderplatz und verweilen noch ein wenig am Neptunbrunnen vor dem roten Rathaus. Von hier kehren wir müde und zufrieden zurück zum Hotel. Am Sonntag checken wir zeitig aus und bringen unser Gepäck zum Hauptbahnhof in ein Schließfach. Heute begnügen wir uns mit einem Schnellfrühstück am Bahnhof und fahren mit der U-Bahn zum Bahnhof Magdalenenstraße im Osten der Stadt, in Lichtenfelde.
Beim Verlassen der U-Bahn stehen wir auf der Frankfurter Allee direkt vor einer sanierten, endlosen Plattenbau-Fassade. Direkt gegenüber liegt ein anderer, großer Gebäudekomplex, den man nach der Wende zum „Campus für Demokratie“ umgetauft hat. Es sind die Gebäude, in denen von 1950-1990 das Ministerium für Staatssicherheit untergebracht war. Unter der Leitung Erich Mielkes als Chef der Geheimpolizei der DDR war hier der Staatsapparat untergebracht, mit dessen perfidem System die eigene Bevölkerung im Sinne des Sozialismus gefügig gehalten wurde.
Die Stasi rekrutierte Heerscharen inoffizieller Mitarbeiter, die privateste und intimste Informationen der eigenen Familie, des Freundes- oder Kollegenkreises an Führungsoffiziere weitergaben. Das unfassbare Ausmaß der Bespitzelung der Bevölkerung bekam nach der Wende einen Namen. Es ist das Stasi-Unterlagen-Archiv. Allein in Berlin lagern 40% der gesammelten Akten, die es aufgereiht auf stolze 111 Kilometer bringen würden.
Das hat die DDR rein analog mit Papier, Griffel und Schreibmaschine geschafft. Nicht auszudenken was eine solche Regierung mit heutigen sozialen Netzwerken erreichen könnte. Mit dem Stasi-Unterlagengesetz konnten ab dem 29.Dezember 1991 alle Bürger Einsicht in ihre Unterlagen beantragen. Die Erkenntnisse waren für viele Menschen sicher erschütternd, denn nicht selten waren es die besten Freunde oder auch engsten Verwandten, die sich letztlich als hinterhältige Stasi-Spitzel erwiesen.
Es ist sicher problematisch als Außenstehender die Beweggründe der inoffiziellen Mitarbeiter der Stasi kategorisch zu verurteilen. Es gibt ausreichend Möglichkeiten den einen oder anderen Bürger zu seinem „Glück“ zu zwingen. Die Kooperation mit den Staatsorganen öffnete sicherlich auch Türen was Beruf, Karriere oder auch die Zuteilung einer Wohnung angingen.
In dem Museum, dass sich in den Büroräumen der Stasi- Führung befindet erfahren wir alles über die Methoden und Techniken der Geheimpolizei der DDR. Bis 1989 gab es allein 90000 hauptamtliche Mitarbeiter der Stasi, dazu kamen 180000 inoffizielle Mitarbeiter. Selbst in der Führungsriege des Arbeiter- und Bauernstaats hegte man gegenseitiges Misstrauen. So wurde 1990 ein roter Koffer beschlagnahmt, in dem Erich Mielke vermeintlich belastendes Material gegen seinen Staatsratschef Erich Honecker aufbewahrte.
40 Jahre hat es der Unrechtsstaat der DDR geschafft seine eigene Bevölkerung einzusperren und auszuspitzeln. Vor 2 Jahren haben wir die Untersuchungs-Haftanstalt- Hohenschönhausen besucht. Hier wurden wir von Edda Schönherz begleitet, die als ehemalige Inhaftierte die volle Härte der Stasi erfahren musste. Als prominente Journalistin geriet sie mit Erich Mielke persönlich aneinander. Freiheitsdenken und eine kritische Haltung gegenüber der Staatsführung reichten aus um weggesperrt zu werden. Wer das 40 Jahre lang erdulden musste darf bei Wahlen doch nie wieder sein Kreuz bei den Extremisten und Populisten machen. Doch wie gerne hören die Schafe auf den Schlächter, der lauthals das Blaue vom Himmel verspricht.
Nachdenklich fahren wir zum Bahnhof, wo wir auf dem Washington-Platz den 3XN-Cube aufsuchen. Das vollverspiegelte, würfelförmige Bürogebäude mit Faltenwurf beherbergt eine Restauration im Erdgeschoß, die an verschiedenen Theken asiatische, italienische oder amerikanische Gerichte anbietet. Auch Veggie, Kaffee und Kuchen sind im Angebot. Wir bestellen etwas aus dem Thai-Angebot und werden über einen Funk-Empfänger informiert unser Essen an der Theke abzuholen.
Es schmeckt wunderbar und es reicht sogar noch für einen Kaffee bis wir uns den Schließfächern zuwenden um unser Gepäck in Empfang zu nehmen. Um 15:45h steigen wir in den ICE nach Wuppertal und sind gegen 20:00h zu Hause.
A. Korbmacher
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