Kassel und Rhön 2024

Mitte September werde ich den Besuch des Jahreskongresses meiner Fachgesellschaft mit einer schönen Motorradtour durch Hessen verknüpfen. Der Austragungsort der Veranstaltung ist Kassel, die drittgrößte Stadt Hessens. Hier verweile ich drei Tage für ein Update rund um Anästhesie und Intensivmedizin. Auch den Besuch der Flugschule auf der Wasserkuppe, mit dem Plan an einem Gleitschirm- Höhenflugtraining am Wochenende teilzunehmen habe ich vorgesehen.

Alles fängt am Dienstagmorgen in der Tiefgarage an, wo ich abfahrbereit den Anlasser meiner im letzten Jahr erworbenen Honda XL 750 Transalp betätige. Gefolgt von einem müden „Klack“ erlischt das digitale Display. Die leere Batterie ist eine Überraschung, denn im Juni war das Motorrad zur ersten Inspektion noch in der Werkstatt. Sollte sich etwa das nicht abgeschaltete automatische Ketten- Schmiersystem an der Batterie bedient haben? Starthilfe kann ich mit den großen Batterieklemmen des Auto- Starthilfekabels nicht bekommen. Dorothee ist so gut und fährt mich noch einmal nach Hause, um das kleine Motorrad- Starthilfekabel aus dem Keller zu holen. Das Problem ist nach dem Anklemmen an der Autobatterie gelöst- der Motor springt sofort an.

Ich verabschiede mich von Doro und mache mich auf den Weg. Im Navi habe ich zwar den Adventure-Mode eingestellt, aber kein Autobahnverbot erteilt. So gelange ich zunächst über die A1 in nördlicher Richtung aus Wuppertal raus bis Gevelsberg. Nach dem Verlassen der Autobahn korrigiere ich die Einstellung und lasse mich nun nördlich von Hagen auf der kürzesten Route zwischen Hellweg und Ruhr auf Kurs Ost bringen. Entlang des Höhenzugs des Haarstrangs fällt der Blick gelegentlich nach Norden in die Westfälische Tiefebene mit den großen Ruhrgebietsstädten Dortmund und Unna.

Südlich des Haarstrangs mache ich eine Pause am Möhnesee. Seitens der Wasseroberfläche ist er die größte Talsperre Nordrhein-Westfalens. Am 12.Juli 1913 wurde das Bauwerk eingeweiht. Im 2. Weltkrieg entwickelte die britische Luftwaffe spezielle Rollbomben, um die eingebrachten Schutznetze vor der Staumauer zu überspringen. Mit der Detonation der absinkenden Ladung direkt hinter der Staumauer brach der Staudamm. Durch die Flutwelle kamen in der Nacht vom 16. auf den 17. Mai 1943 bis zu 1600 Menschen im Ruhrtal ums Leben. Gegen 17 Uhr erreiche ich mein Quartier in Kassel. Auf der Suche nach einem strategisch günstigen Basislager für den Kongress bin ich in der Jugendherberge der Stadt fündig geworden.

Der Jugendherbergs-Vater hat mir ein Doppelzimmer zur Einzelnutzung reserviert und im Hof finde ich einen idealen Stellplatz für mein Motorrad. Die Jugendherberge ist zentrumsnah und südlich der Zufahrtsgleise zum Kasseler Hauptbahnhof gelegen. Nachdem ich mich im Zimmer eingerichtet habe, mache ich mich auf den Weg meine Optionen für ein leckeres Abendessen zu checken. Ich suche mir fußläufig ein italienisches Restaurant in der Jordanstraße. Die Empfehlung des Tripadvisors hat mich hierher geführt und nicht enttäuscht. Besonders angetan bin ich schon bei der Vorspeise mit den süßsauer eingelegten Sardinen, einer Spezialität aus Venetien, der Heimat des Inhabers.

Am Abend erfahre ich von Dorothee, dass Tochter Anne gerade mit dringendem Verdacht auf Blinddarmentzündung zur OP vorbereitet wird. Grundsätzlich bin ich mit der Wahl meiner Unterkunft zufrieden. Selbst die hörbare Nähe zum Hauptbahnhof sehe ich nicht als Problem, das notorische Türenknallen der Kindergruppen am späten Abend schon eher. Na gut- wie war das bei uns damals auf Klassenfahrt?- irgendwann hat dann aber doch der oder die Letzte die Tür zugeballert. Mit der Info, dass Anne den Eingriff gut überstanden hat kann ich dann auch gut schlafen. Das Frühstück ist völlig in Ordnung und bis zur Kongresshalle sind es 17 Minuten zu Fuß.

Hinter dem neoklassizistischen Portikus der 1914 eröffneten Stadthalle betrete ich am Mittwoch die Welt der Anästhesie und Intensivmedizin, in der ich mir anhand von Vorträgen, aktuellen Studien und Leitlinien einen umfassenden Eindruck abholen kann, was derzeit angesagt ist. Medizin ist keine exakte Wissenschaft und so sind auch die Richt- und Leitlinien ständig im Fluss. Seit mehr als 30 Jahren überträgt sich das auch auf meine tägliche Arbeit.

Am Abend hole ich mir bei einem ganz gut bewerteten Italiener eine herbe Enttäuschung ab. Bereits die Vorspeise, eine majonaisige Tunke mit Brot erscheint lieblos. Die italienische Köstlichkeit eines gut gemachten Saltimbocca alla Romana finde ich leider auch nicht auf meinem Teller. Das Fleisch schmeckt wie aufgewärmt und ist mit einer trockenen Schicht von Schinken mit viel zu dicken Salbeiblättern belegt. Der Wirt fragt und ich antworte: „Das ist das schlechteste Saltimbocca das ich je gegessen habe“- meine Kritik nimmt er ohne Protest entgegen.

Auch am Donnerstag und Freitag besuche ich interessante Vorträge und Workshops im großen Vortragssaal und in den vielen Seminarräumen. Eine schöne Abwechslung bietet eine ambitionierte Vorführung, die vor der Stadthalle in Zusammenarbeit mit Rettungsteams und der Feuerwehr inszeniert wird- das Szenario: Eine Person, die aufgrund eines Herzinfarkts die Kontrolle über das Fahrzeug verloren hat und eingeklemmt wurde, wird aus dem Fahrzeug herausgeschnitten.

Bei der Bergung erleidet der Dummy dann simuliert einen Herzstillstand und wird reanimiert. Demonstriert wird neben der externen Herzmassage die Option den Blutfluss bei der Reanimation mithilfe einer ECMO- Maschine anzutreiben. Extracorparale Membranoxigenierung (ECMO) kann sowohl Sauerstoff in den Körperkreislauf einbringen, bei entsprechender Kanülierung aber auch das stehende Herz ersetzen. Diese Technik kann bei passender Indikation bei der Herz-Lungen-Wiederbelebung von einem dafür trainierten ECMO-Team erwogen werden.

Am Donnerstagnachmittag brauche ich etwas Bewegung und fahre von der Stadthalle mit dem Bus hinauf zum höchsten Punkt des Bergparks Wilhelmshöhe mit der Statue des Herkules auf dem sogenannten Riesenschloss. Der Park mit seinen an den Hang gebauten Wasserspielen und Anlagen entstand seit Ende des 17. Jahrhunderts unter Landgraf Karl. Unter weiteren Landgrafen wurde die Anlage erweitert, barockisiert und mit Einbauten versehen. Seit 2013 genießt der Bergpark den Status des UNESCO-Weltkulturerbes.

Ich laufe durch die Anlagen hinunter zum Schloss Wilhelmshöhe, dessen Kunstausstellung ich in Anbetracht der fortgeschrittenen Zeit nicht mehr besuchen kann. An dieser Stelle entstand 1143 ein Augustiner-Chorherren-Kloster, das Ende des 16. Jahrhunderts aufgelöst wurde. Ich laufe hinunter zur Wilhelmshöher Allee und habe allmählich ordentlich Appetit. ich entscheide mich für das Taki-Sushi-House an der Einmündung der Langestraße. Ich esse hier ein wunderbares Menü mit erstklassigem Sushi.

Bis zur Jugendherberge habe ich noch einen ordentlichen Verdauungsspaziergang zu absolvieren. Ich komme dabei am Bundessozialgericht und auch an der Kongresshalle vorbei. Beim abendlichen Türenknallen versuche ich heute früh in den Schlaf zu finden. Am Freitag besuche ich noch einmal bis zum Nachmittag die Veranstaltung in der Stadthalle.

In der Rhön habe ich auf der Wasserkuppe für heute bis Sonntag ein einfaches Quartier im Hotel „Deutscher Flieger“ gebucht. Ich fahre am Nachmittag los und mache mich mit Kurs Süd im bewährten Adventure- Mode auf den Weg über Bad Hersfeld hinauf zur Wasserkuppe auf 950 Meter. Wir hatten zu Hause bei der Abfahrt noch sommerliche Temperaturen, mittlerweile hat es ordentlich abgekühlt und es ist recht windig.

Ich kenne das Gelände der Flugschule, in der ich mich seit 2022 bereits mehrfach mit dem Thema Gleitschirmfliegen beschäftigt habe sehr gut. Bisher habe ich dann im „Peterchens Mondfahrt“ gewohnt. Diesmal habe ich die preislich günstigere Alternative eines Zimmers im benachbarten „Deutschen Flieger“ gewählt, wo ich eine Dusche im Zimmer habe. Mit der Toilette auf dem Flur kann ich leben. Das gute Frühstück im „Peterchen“ ist allerdings mit drin, hier esse ich heute wie gewohnt gut zu Abend. Mit dem passenden Wetter für die Fliegerei hatte ich ja bereits im Frühjahr kein Glück auf der Wasserkuppe. Ein Höhenflugtraining wird an diesem Wochenende leider auch nicht angeboten. Die Windböen haben es in sich, was allerdings die Besten der Szene nicht davon abhält an der derzeitigen Punktlandungs-Weltmeisterschaft teilzunehmen.

Das Wetter am Samstag beginnt verhangen und kühl, was zu meiner traurigen Stimmung an diesem Morgen passt. Ich habe in der Nacht eine Nachricht erhalten, dass mein lieber Kollege und Freund Alex gestern verstorben ist. Ich habe mit ihm 26 Jahre lang in Wuppertal zusammengearbeitet und seit einigen Jahren seinen tapferen und aufrechten Kampf gegen seine Erkrankung miterlebt. Ich werde heute bei dem zumindest trockenen Wetter eine Motorrad-Exkursion mit dem ersten Zwischenziel am Berg Milseburg 835 unternehmen. Der Berg Milseburg liegt nordwestlich der Wasserkuppe und ist über einen Aufstieg von etwa 150 Metern vom Wanderparkplatz nördlich von Danzwiesen in einer kurzen Wanderung zu erreichen. Am felsigen Gipfel haben archäologische Untersuchungen eine prähistorische Siedlung seit der späten Bronzezeit (1200-800 v.Chr.) gefunden. Ein 1,4 Kilometer langer Steinwall zeugt von der ehemaligen Steinmauer rund um die Ansiedlung.

Ich erreiche den kahlen Gipfel aus vulkanischen Phonolith- Gestein mit einer Kapelle und einer Kreuzigungsgruppe. Mittlerweile lässt sich auch die Sonne zunehmend blicken. Der Sage nach liegt der Riese „Mils“, der mit dem Teufel im Bunde war unter der Milseburg begraben. Er wurde vom Heer des Ritters Gangolf besiegt, dem als St. Gangolf die hiesige Kapelle gewidmet ist. Der morgendliche „Move“ auf diesen wunderbaren Aussichtsgipfel und der 360-Grad Rundumblick haben sich alle Male gelohnt. Direkt gegenüber unter dem Radom erkenne ich die Westhänge der Wasserkuppe.

Nach dieser Gipfel-Exkursion habe ich für den Rest des Tages nun Zeit für eine entspannte Motorrad-Runde durch die Rhön. Mit Nordkurs reite ich über die Hügel zum nächsten Ziel in Tann in der Rhön. Durch das hübsche Stadttor aus der Mitte des 16. Jahrhunderts fahre ich zum Marktplatz der historischen Stadt, die erstmals im Jahr 1197 erwähnt wurde. Von Tann aus fahre ich weiter in nördlicher Richtung bis Scheid und halte mich dann östlich über Kranlucken nach Andenhausen und Empfertshausen. Hier bin ich auf der Suche nach Relikten des Eisernen Vorhangs. Ich irre eine Weile auf Schotterstraßen durch die Wälder wo bis 1989 der „antifaschistische Schutzwall“ unser Land teilte. An einer Stelle erblicke ich noch einen der alten Wachtürme entlang der Mauer.

Nun halte ich mich südwärts über die Weiler Kaltennordheim, Kaltensundheim und Melpers. Hinter Melpers weist ein großes Schild auf die 40 Jahre lange Teilung Deutschlands hin. In der sozialistischen Diktatur des Unrechtsstaates der DDR litten die Menschen unter Unterdrückung, Unfreiheit und Bespitzelung. Der damalige Ruf nach Freiheit und Demokratie ist längst verhallt- Ich bin erschüttert über den Ausgang der letzten Landtagswahlen unter anderem in Thüringen. Populisten abseits des demokratischen Spektrums sollen Euch wirklich wieder „führen“? – Ruft Ihr dann wieder nach Freiheit wenn es soweit ist? Ich kapiere das nicht, aber Ihr seid ja das Volk.

Hinter Fladungen halte ich mich nun westwärts über Hausen auf der Rhönhofstraße, die mich zur Hochrhönstraße führt. In der Nachmittagssonne gleite ich durch die herrliche Landschaft hinauf in die Hochrhön. Meine neue Transalp verfügt über einen Quick-Shifter, der es mir ermöglicht während der Fahrt auch ohne Kupplung zu schalten. Dazu schnurrt der Zweizylinder zufrieden vor sich hin. Ich bin zufrieden mit der XL 750 und mache bei einem Fotostopp mit Fernblick auch noch ein paar Bilder von meinem Gefährt. Nach 170 Kilometern erreiche ich mein Quartier auf der Wasserkuppe, wo ich mir eine heiße Dusche gönne und mich auf mein gutes Abendessen im „Peterchen“ freue.

Der Sonntag ist meiner Rückfahrt nach Hause gewidmet und so mache ich mich auch zeitig nach einem letzten guten Frühstück auf der Wasserkuppe auf den Weg. Nordwärts mit der B27 über Hünfeld halte ich mich ab Rhina auf Kurs West und lasse mich dabei auf der kürzesten Route über Gemünden (Wohra), Frankenberg (Eder), Bad Berleburg, Kirchhundem und Olpe an der Biggetalsperre vorbei ins Bergische Land leiten. Über Meinerzhagen, Marienheide, Wipperfürth und Radevormwald erreiche ich am Nachmittag nach 970 Kilometern die Homebase.

Arnd Korbmacher

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